Zwischen Asylpaket und Teilhabe

Mannheim will es schaffen

Veranstaltung am 18.4. im Jugendkulturzentrum Forum/Mannheim

Die Veranstaltung war gut mit 70 Personen besucht. Zum Podium hatte save-me folgende Gäste eingeladen:

Herrn Blechinger, Referent für Migration und Flüchtlinge des Diakonischen Werkes Baden,
Frau Feßenbecker, Fachanwältin für Ausländerrecht,
Herrn Memet Kilic, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Grünen, heute Vorsitzender des Bundeszuwanderungs- und Integrationsrates (Dachorganisation der Migrations/Ausländerbeiräte in Deutschland),
Frau Hadjiandreou-Boll, Flüchtlingskoordinatorin der Stadt Mannheim,
Herrn Prof. Weisskirchen, ehemaliges Mitglied des Bundestages für die SPD,
einige Abgeordnete der CDU aus Land und Bund wurden angefragt, sagten aber ab.

Moderatorin war Anna Barbara Dell.

Im ersten Teil der Veranstaltung gaben die Podiumsgäste einen Input zur aktuellen Lage und zu den Verschärfungen des Asylrechtes in Europa und Deutschland und zeigten die praktischen Auswirkungen mit Blick auf die Geflüchteten auf.

Im zweiten Teil standen Anregungen der Podiumsgäste zu Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft im Fokus. Fragen aus dem Publikum wurden beantwortet, Anregungen gehört.

Im Zentrum stand die Frage: Was tun angesichts der prekären Lage von Geflüchteten in Griechenland, Libyen und anderen Orten?

Diesem Anliegen galt auch der Offene Appell an die Bundesregierung, der am Ende durch die Moderatorin vorgelesen wurde. Der Offene Appell ist von save-me-mannheim verfasst und auf der homepage von save-me-mannheim nachzulesen.

Erster Teil: Verschärfungen des Asylrechts

Frage: Worum handelt es ich bei dem Europäischen Asylpaket, dem EU-Türkei-Deal, der Schlepper bekämpfen soll?

Antwort Herr Blechinger:
Es handelt sich um eine Erosion menschenrechtlicher Standards. Die Regierungschefs der EU wenden die EU-Menschenrechte nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht mehr an. Es gibt dabei aber verschiedene Aspekte: Gut ist, dass jetzt eine große Zahl von Kontingentflüchtlingen aufgenommen wird. Schlecht ist, dass so viele Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden. Die Türkei wendet die Genfer Flüchtlingskonvention bei Flüchtlingen aus Gebieten außerhalb der EU nämlich nicht an, was heißt, dass z.B. Geflüchtete aus Afghanistan in der Regel in der Türkei nicht anerkannt werden. -> Aushebelung der EU-Rechte.

Frage: Die Dublin III VO wird nicht mehr angewandt. Sie enthält Bestimmungen zur Ermittlung der Zuständigkeit des Staats für Asylverfahren. In der Regel ist dies der erste EU-Staat, den der Geflüchtete betritt. Ist dieses System gerecht? Hat es ausgedient?

Antwort Herr Blechinger:
Die Idee der Dublin-Konstruktion stammt aus Deutschland und Frankreich. Die Zuständigkeit wird an die Außengrenzen verlagert und es entsteht ein Wettlauf von Verschlechterungen bei den Staaten: das führt zu einem Zusammenbruch des Asylsystems. Folge: Es ist im Interesse jedes Staates, schlechte Bedingungen zu setzen, um unattraktiv zu sein.

Nötig ist aber die gerechte Verteilung der Geflüchteten innerhalb der EU.

Beispiel: Der Ort der Antragstellung ist der Ort der Zuständigkeit, verbunden mit Ausgleichszahlungen zugunsten dieses Staates; Zuständigkeitsverteilung nach EU-Einwohnerquote/ Finanzkraft; Belohnungssysteme für Staaten, die Geflüchtete aufnehmen und Sanktionen für Staaten, die keine Geflüchteten aufnehmen. Deutsche Politiker*innen wissen, dass das Dublin-Verfahren überholt ist, wie sogar der deutsche Innenminister de Maizière feststellte.

Frage: Werden die Flüchtlingszahlen im Sommer wieder steigen? Man hört z.B., dass in Libyen bereits tausende von südlich der Sahara zugewanderte Menschen auf eine weitere Möglichkeit warten, um nach Europa zu kommen.

Antwort Herr Blechinger:
Die Schlepper-Organisationen werden neue Routen wählen. Das Mittelmeer wird wieder attraktiver, seitdem die Balkanroute gesperrt ist. Es gibt bereits Anzeichen, dass die Zahlen wieder steigen.

Frage: Welche konkreten rechtlichen Auswirkung der Verschärfungen sind in der Praxis zu beobachten?

Antwort Frau Feßenbecker:
Durch Asylpaket I und II kam es zu spürbaren Verschärfungen des Asylrechts:

Asyl-Paket I (in Kraft seit 24.10.15): Verschärfungen

  • Als sog. Sichere Herkunftsländer wurden Albanien, Kosovo und Montenegro hinzugefügt, was auf die Asylverfahren erhebliche verschlechternde Auswirkungen hat, wie eine schnellere Abschiebung. Die Stigmatisierung der Geflüchteten nimmt zu durch Wiedereinführung der Residenzpflicht und durch Arbeitsverbote.

Asyl-Paket II (in Kraft 17.3.16) Verschärfungen

  • Drei weitere sog. Sichere Herkunftsländer wurden als gesetzliche Vermutung eingeführt: Algerien, Marokko und Tunesien.
  • Beschleunigte Asylverfahren: Es wurden besondere Aufnahmeeinrichtungen (2 in Bayern) eingeführt, deren Wirkung für Geflüchtete negativ sind: die Chancen der Geltendmachung individueller Gesichtspunkte sind wegen Mangel an Zeit und Infrastruktur sehr schlecht. Außerdem besteht strikte Residenzpflicht.
  • Der Familiennachzug für subsidiär Geschützte wird für 2 Jahre ausgesetzt. Bisher gibt es nur wenige Geflüchtete mit subsidiärem Status. Länder mit „guter Bleibeperspektive“ brauchten bis zum 1.1.16 nur ein schriftliches Verfahren – seit dem Asyl-Paket II ist auch mündliche persönliche Anhörung als Nachholmaßnahme angestrebt, um vermehrt subsidiären Status zu erteilen. Das Problem dabei ist: Syrer sind extrem auf Familiennachzug angewiesen. Dieser kann sich in Zukunft bis zu 5 Jahre hinauszögern.
    Das ist eine Verletzung des Familiengrundrechts sowie des Kinderschutzrechts und weder mit dem Grundgesetz noch mit den internationalen Menschenrechten vereinbar!
  • Die Rechtsverweigerung passiert gegenwärtig durch schlechte Besetzung der Auswärtigen Ämter in den Nachbarländern der Kriegsländer: Familiennachzug – Visumanträge werden erst nach einem halbem bis ganzen Jahr bearbeitet.
  • Ärztliche Atteste müssen nur noch von Mediziner*innen vorgelegt werden – mit hohen Hürden gesetzlicher Vorgaben – Atteste von Psychotherapeuten sind nicht mehr zulässig, d.h. ein Berufsstand wird diskriminiert.
  • Nur noch schwerwiegende lebensbedrohliche Erkrankungen werden hier behandelt
  • Seit Ende 2015 werden Afghanen trotz jahrelanger Duldung auf Beschluss der Innenministerkonferenz abgeschoben. Das Innenministerium Rheinland-Pfalz setzt dies nur auf freiwilliger Basis um; Baden-Württemberg dagegen besteht auf rigoroser Abschiebung trotz Vertrauenstatbestandschaffung durch jahrelange Duldung. Die Politik ist gefragt, das zu ändern!

Begriffe:
Der beste Flüchtlingsstatus liegt nach der Genfer Flüchtlingskonvention vor: Verfolgung aufgrund von Religion, politischer und / oder ethnischer Gründe.
Subsidiären Schutz bekommt jede Zivilperson, die in Gefahr der Tötung ist oder der unmenschliche Behandlung droht oder die in Kriegsgebieten als Zivilperson an Leib oder Leben verletzt zu werden droht. Das betrifft insbesondere Syrer*innen, Eriträer*innen, Christ*innen aus dem Irak und Iran.

Diese Unterscheidung zwischen „nur“ Kriegsflüchtlingen und individueller politischer Verfolgung hat zur Folge, dass ein voller Flüchtlingsschutz praktisch nur über eine gerichtliche Entscheidung erreicht werden kann!

Frage: Was verspricht das neue Integrationsgesetz der Großen Koalition, das im Mai verabschiedet werden soll?

Antwort Herr Kilic:
Gutes im neuen Integrationsgesetz:

  • eine Ausbildung darf beendet werden, bevor Asylentscheidungen ergehen dürfen.
  • Es gibt eine Bleibeerlaubnis für 2 weitere Jahre, wenn sich eine Beschäftigung anschließt.
  • Die Vorrangprüfung fällt weg.

Mängel im Gesetz:

  • Betreuung, Soziales nicht enthalten. Zum Ziel, Flüchtlinge in Arbeit zu bringen, hat sich der Gesetzgeber nichts einfallen lassen.
  • Sprachkurse sollen von 20 auf 25 Personen pro Kurs erhöht werden – das verkompliziert die Umsetzung.
  • Es fehlt eine Altfall-Regelung gegenüber Menschen, die seit mehreren Jahren geduldet sind.
  • Sortierung zu Beginn der Ausbildung in „gute – schlechte Bleibeperspektive“
  • Eine sog. „Wohnsitzauflage“ (früher hieß es „Residenzpflicht“) wird eingeführt: dies erschwert das Finden von Arbeitsplätzen abseits des Wohnsitzes eines/einer Geflüchteten.
  • 1000 zusätzliche 1-Euro-Jobs sollen für Flüchtlinge geschaffen werden – das erhöht die Konkurrenz in Niedriglohnbereichen und bei der Suche nach preiswertem Wohnraum in allen Stadtgebieten, das verschlimmert die Flickschusterei und begünstigt die AFD!

 

Zweiter Teil : Handlungsmöglichkeiten

Frage: Was muss geschehen?

Antwort Herr Kilic:

  • Die Fluchtgründe müssen beseitigt werden, z.B. Energieressourcen (Öl, Bodenschätze, Waffenverkäufe)
  • Nötig ist eine Integrationskommission, die über ein wirklich modernes Gesetz diskutiert (besetzt mit Politiker*innen und Fachleuten), wie bei der Süssmuth-Kommission.
  • Es muss geregelt werden, wie Menschen über ganz normale Wege herkommen und arbeiten können. Das jetzige Ausländerrecht ist viel zu kompliziert und restriktiv. 
Frage: Was kann die Zivilgesellschaft tun?

Antwort Herr Prof. Weisskirchen:
Die Zivilgesellschaft kann nicht für die Politik die Aufgaben erledigen. Es wären fundamentale Änderungen der Politik notwendig. Bisher erfolgen nur Verschärfungen, das Grundgesetz wird in der politischen Realität nicht mehr qualitativ eingelöst.

1993 gab es die Grundgesetzänderung des Art. 16a GG: Asylgrundrecht wurde durch Abs. 2 eingeschränkt. Damit wurde die Tendenz zu Hochziehung der Mauern eingeleitet. (Weisskirchen hat damals gegen diese Gesetzesverschärfung gestimmt). Was das Grundgesetz heutzutage verspricht, ist nur eine leere Hülle.

Die AFD ist eine rechtsextremistische Partei – sie wird sich selbst entlarven: Die Demokratische Mitte muss das Fundament der Demokratie erhalten:

  1. Demokratische Parteien müssen verstehen, dass sie, wenn sie Flüchtlingsrecht verschärfen, die AFD / Rechte Seite unterstützen.
  2. Ein europäisches Gesamtkonzept wäre die Ideallösung. Leider gibt es zu viele kontroverse Positionen.
  3. Erforderlich ist ein neues Bündnis der Zivilgesellschaft, das an Grundrechten und demokratischen Werten festhält.
Frage: Wie ist Situation in Mannheim? Was kann Mannheim tun?

Antwort Frau Hadjiandreou-Boll:
Mannheim war zunächst nur geplant als Außenstelle der Landeserstaufnahmestelle Karlsruhe (LEA seit 2014). Dann erfolgte die Befreiung von neuen kommunal zugewiesenen Flüchtlingen. Es gibt Betreuung von Erstaufnahmen in LEA´s. Außerdem leben in Mannheim zirka 500 sog. „Bestandsflüchtlinge“, d.h. Menschen in kommunaler Verantwortung , die entweder in Gemeinschaftsunterkünften oder in Wohnungen untergebracht sind.

Weitere Entwicklung:

  • Eine Ausweitung LEA´s auf BEA´s (Bedarfsorientierte Erstaufnahmestelle) auf den Konversionsflächen der früheren US-Armee ist angedacht: als Höchstgrenze war mit dem Land 12.500 Plätze vereinbart (Columbus, B-Fr. Spinelli, Hammonds), zeitweise waren es 2015 bis zu 15.000 Menschen, die dort lebten.
  • Es erfolgte die Gründung einer neuen Abteilung bei der Stadt zur Organisation des Ehrenamts und des Flüchtlingsfonds ab 1.10.2015. Der Flüchtlingsfonds und die Ehrenamtlichen füllen wichtige Lücken! Momentan bauen wir neue Strukturen in Mannheim und verbessern den Informationsstand. Da das Land keine Beschulung der Kinder vorsieht, wird Mannheim tätig.
  • ÖPNV – Landesangelegenheit / Regierungspräsidium hat dies noch immer nicht geregelt – der Fonds fängt dies auf
  • Das geplante Integrationsgesetz ist Flickschusterei und Wirtschaftslobbyismus
  • „Einwanderungsgesetz“ fehlt noch immer
  • Die Unterbringung in der Industriestraße soll aufgelöst werden; ein neues Gebäude soll in der Untermühlaustrasse entstehen, verbunden mit einem Antragszentrum des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF); Aufnahmekapazität 1.000 Plätze.

 

Fragen aus dem Publikum und Antworten des Podiums:
  • Von der Bundesarbeitsgemeinschaft Bundeswohlfahrtpflege wurde ein Papier erstellt zur Umsetzung für „Wir schaffen das.“ Hintergrund: 60 % der Ankommenden erhalten einen Status und bleiben in Deutschland.
  • Punkte aus dem Papier der Wohlfahrtsverbände, die umgesetzt werden müssten:
  • Bildungspolitik – mehr qualifiziertes Fachpersonal – Kulturministerium stellt zu wenig ein
  • Kinderbetreuung – fehlt in LEA´s = Versäumnis Integrationsamt
  • Fatal wäre es, Kinder mit „schlechter Bleibeperspektive“ (z.B. aus sog. sicheren Herkunftsländern) nicht zu beschulen: das schafft neue Probleme und stellt eine Ausgrenzung dar. Langfristige Einbindung der qualifizierten Geflüchteten in den Arbeitsmarkt sollte das intelligente Ziel sein.
  • Sprach- und Integrationskurse sind leider nur mit hohen Hürden erreichbar und fachlich schlecht besetzt. Hier ist ein Gesamtkonzept erforderlich!
  • Nur durch äußerst großen (rechtlichen) Kampf findet ein Zugang zu Sprachkursen für Geduldete und nach § 25 Abs. 5 AsylG für Geflüchtete mit „kurz befristeter Aufenthaltserlaubnis“ statt.
  • 2012 erging ein BVerfG-Urteil: „Menschenwürde endet nicht an der Grenze.“ LEA´s sollen nur vorübergehender Natur sein, da Flüchtlinge keine halben Menschen sind. Ausdehnung auf 6 Monate ist Versuch des Bundes, geringere Leistungspflichten zeitlich maximal auszureizen. Nun ist die Zivilgesellschaft gehalten, die Zustände zu beobachten und gegebenenfalls die Landesregierung unter Druck zu setzen.
  • Bildung für Kinder: Das Land Baden Württemberg setzt die Schulpflicht während des Aufenthalts in einer LEA aus. Das Schulrecht besteht aber in Deutschland ab dem ersten Tag. Die Einforderung des Rechts auf Schule ist möglich! Zur Gewährleistung des Schulrechts werden freiwillige Angebote in BEA´s durch die Stadt angeboten. Dies ist eigentlich Aufgabe des Kultusministeriums, also eine Landesaufgabe. Dennoch ist die Stadt in der Pflicht, für das Funktionieren zu sorgen, da sich ansonsten noch mehr Unmut in der Bevölkerung gegen die aktuelle Politik regen würde. Die Schulpflicht gilt auch für Kinder aus dem Westbalkan, auch das Recht auf Kindergarten ab dem 1. Tag!
  • Zur Gesundheitskarte für Geflüchtete: Die AOK ist dazu bereit, die Ärzte und einige Politiker auch! Es gibt bereits Anträge von Parteien, die Zivilgesellschaft sollte diese unterstützen.
Offener Appell an die Bundesregierung

Zum Abschluss verlas die Moderatorin den vorbereiteten Entwurf eines Appells an die Bundesregierung. Es kamen Anregungen aus dem Publikum, die berücksichtigt werden. Der Appell soll von möglichst vielen Persönlichkeiten im Raum Rhein-Neckar unterschrieben werden.

 

Anna Barbara Dell